Überflutungsrisikomanagement (ÜRM) bei der Stadtentwässerung

Es vergeht fast kein Tag aus dem internationalen Geschehen ohne eine Nachricht über heftige Regenfälle und Überschwemmungen, verbunden mit hohen Sachschäden und oft auch mit Personenschäden. Nationale und internationale Fachzeitschriften [1] und Zeitungen veröffentlichen vermehrt Artikel über Klimawandelfolgen und potenzielle Anpassungsstrategien. In der Politik und der Wissenschaft wird intensiv über die Häufung von u. a. Extremregenereignissen als Folge des Klimawandels diskutiert. Die politische wissenschaftliche Diskussion findet große Aufmerksamkeit in breiten Schichten der Gesellschaft unterstützt von der subjektiven Wahrnehmung aus der Häufung aktueller Bilder von Extremereignissen.

Die Europäische Union hat im Jahre 2007 die „Hochwasserrisikomanagement – Richtlinie, EU-HWRM-RL“[2] verabschiedet, um den potenziellen Klimawandelfolgen Rechnung zu tragen. Die neue Novellierung des Wasserhaushaltgesetzes (WHG) im § 6 bezieht sich  auf die möglichen Folgen des Klimawandels.  Hier steht „die Gewässer sind nachhaltig zu bewirtschaften, insbesondere mit dem Ziel, .……. möglichen Folgen des Klimawandels vorzubeugen“. Hinsichtlich des Klimawandels geht es darum, den möglichen nachteiligen Folgen durch geeignete Anpassungsstrategien vorzubeugen. Die DIN EN 752 (Kanalnetze) [3] in ihrer letzten Aktualisierung gibt vor, in künftigen Planungen den Klimawandel zu berücksichtigen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert eine große Anzahl von Projekten mit dem Schwerpunkt der Klimawandelfolgen in der Wasserwirtschaft und ihrer Infrastruktur (z.B. RIMAX, KLIWA, dynaklim) [4,5,6].

Fragen, die die Fachwelt der Wasserwirtschaft in Verbindung mit einem potenziellen Klimawandel zu beantworten versucht, sind:

  • Werden seltene gemessene Extremereignisse häufiger in der Zukunft auftreten?
  • Werden seltene gemessene Extremereignisse bestimmter Dauer und Intensität in der Zukunft intensiver?
  • Wie ist es mit der Verteilung des Niederschlagsregimes innerhalb eines Jahres (Trockenperioden, nassen Perioden)?
  • Wie ist es mit der Temperaturentwicklung und Verteilung?

Nach dem Stand der Forschung können die o. g. Fragen nicht abschließend sicher beantwortet werden. Die Aussagen der vorhandenen Klimamodelle sind mit Unsicherheiten behaftet, da sie in Abhängigkeit von Modell und Zukunftsszenario kein eindeutiges Ergebnis liefern. Durch die Betrachtung eines Ensembles an Modellrechnungen kann lediglich eine Bandbreite möglicher Entwicklungen angegeben werden. Die Entscheidungsträger sind heute mehr den je gezwungen, in einem unsicheren Umweltzustand langfristig wirkende Entscheidungen zu treffen. In der Stadtentwässerung müssen Entscheidungen für die nächsten 70 bis 100 Jahre getroffen werden (Nutzungsdauer von Entwässerungssystemen).

Aufgrund der unsicheren Daten- und Informationsbasis kann eine Fehlentscheidung nicht ausgeschlossen werden. Eine Fehlentscheidung löst eine Aktion aus, welche als Konsequenz das Versagen des Systems hervorbringen oder zu einer unwirtschaftlichen Überdimensionierung führen kann. Ein Versagen kann Schäden unterschiedlicher Art und unterschiedlichen Ausmaßes bringen. Es stellt sich also die Frage, wie der Entscheidungsträger sich in einer unsicheren Umwelt verhält, um potenzielle Schäden einer Fehlentscheidung soweit wie möglich zu minimieren.

  1. Ziele und Aufgaben der Stadtentwässerung

Die DIN EN 752 beschreibt die Aufgaben der Stadtentwässerung wie folgt:

  • die Aufrechterhaltung hygienischer Verhältnisse in Siedlungen durch vollständige Sammlung und Ableitung des anfallenden Schmutzwassers zur Kläranlage,
  • die weitgehende Vermeidung von Schäden durch Überflutungen und Vernässungen infolge von Niederschlagsabflüssen,
  • die möglichst weitgehende Aufrechterhaltung der Nutzbarkeit der Siedlungsflächen unabhängig von den Witterungsverhältnissen („Entwässerungskomfort“).

Als Überflutung wird ein Systemzustand definiert, bei dem Schmutzwasser und/oder Niederschlagswasser aus dem System entweicht oder nicht in dieses eintritt, und entweder auf der Oberfläche verbleibt oder in Gebäude eindringt [3].

Um einen sozioökonomisch ausgewogenen Entwässerungskomfort zu gewährleisten, wurden neue Bemessungs- und Nachweiskriterien entwickelt  [3,7], auf deren Basis die vorhandenen Entwässerungssysteme nachgewiesen, bzw. neue ausgelegt werden sollten.

Die Umsetzung der neuen Bemessungs- und Nachweiskriterien führt oft zu signifikant größeren Dimensionen von Kanälen im Bestand. Dabei sind noch nicht einmal Klimawandelfolgen berücksichtigt. Bei dem Versuch den Klimawandel in einer vereinfachten Form zu berücksichtigen, wie Herabsetzung der Wiederkehrzeit von Regenereignissen bestimmter Dauer und Intensität, nimmt die Vergrößerung der notwendigen Kanaldimensionen überproportional zu. Entsprechend erhöht sich auch die finanzielle Belastung des Betreibers bzw. der Bürger (Erhöhung von Gebühren).

Die Stadtentwässerung steht damit vor einer neuen Herausforderung und hat folgende Fragen zu beantworten:

  • Können die Zielgrößen mit immer größer werdenden Kanälen eingehalten werden?
  • Wenn auch möglich, ist es aus volkswirtschaftlicher Sicht vertretbar?
  • Wo liegt die finanzielle Belastungsgrenze beim Bürger?
  • Was ist, wenn es nicht möglich ist, mit größeren Kanälen die Zielgrößen einzuhalten?
  • Wie ist es mit Ereignissen, welche außerhalb des Betrachtungszeitraumes von vorliegenden Messungen liegen?
  1. Paradigmenwechsel in der Stadtentwässerung – Übergang vom Sicherheits– zum Risikodenken

Die Stadtentwässerung verfolgt heute überwiegend immer noch Konzepte, welche aus einem Sicherheitsdenken abgeleitet wurden. Die zentrale Frage hier lautet: Wie können wir uns schützen? Bei der Auslegung der Systeme werden nur häufig erfasste Ereignisse berücksichtigt. Der Stellenwert von Gefahren (Versagen des Systems) ist nicht bekannt und die Maßnahmenplanung erfolgt fachtechnisch (sektoriell). Dadurch ist ein Vergleich von Maßnahmen im Ganzen kaum möglich.

In einer unsicheren Entwicklung von Umweltzuständen (Klimawandel) und immer größer werdender finanzieller Belastung sowie aus ökologischen Gründen lautet die zentrale Frage: welche Sicherheit zu welchem Preis? Es ist notwendig, nicht nur häufig erfasste Ereignisse zu berücksichtigen, sondern auch seltene. Dabei müssen potenzielle Gefahren mit entsprechender Bewertung berücksichtigt werden. Aufgrund der Komplexität mit den entsprechenden Wechselwirkungen von Entwässerungssystemen sollen notwendige Maßnahmen interdisziplinär erfolgen. Bei dieser Vorgehensweise ist der Vergleich von Maßnahmen auf Basis ihrer Wirksamkeit und unter Berücksichtigung ihrer Akzeptanz möglich.

Für Politik und Zivilgesellschaft bedeutet dies ein Übergang vom Sicherheits- zum Risikodenken.

  1. Überflutungsrisiko

Das Versagen eines Entwässerungssystems mit unerwünschten Konsequenzen ist u.a. verbunden mit einer Überflutung und den damit entstandenen Schäden. Aufgabe des Betreibers ist, das Risiko eine Überflutung abzuschätzen und Maßnahmen einzuleiten, um das Überflutungsrisiko zu reduzieren.

Allgemein ist das Überflutungsrisiko die Wahrscheinlichkeit eines Überflutungsereignisses von einem bestimmten Ausmaß, verbunden mit den geschätzten Schäden im Hinblick auf die menschliche Gesundheit, die Umwelt und wirtschaftliche Tätigkeiten. Das Überflutungsrisiko ist also das Produkt aus der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Überflutungsereignisses und der überflutungsbedingten potenziellen nachteiligen Folgen (Überflutungsschäden) auf die menschliche Gesundheit, die Umwelt, das Kulturerbe und die wirtschaftlichen Aktivitäten. Es wird als Interaktion von Gefährdung und Vulnerabilität dargestellt (Schadenspotenzial).

Im Bereich der Naturrisiken, zu denen das Überflutungsrisiko zählt, beschreibt die Vulnerabilität die Verletzbarkeit und die möglichen Schäden im Ereignisfall. Die Verletzbarkeit wird durch die Exposition und die Anfälligkeit der Risikoelemente (menschliche Gesundheit, Umwelt, das Kulturerbe, wirtschaftlichen Aktivitäten) beschrieben. Als Exposition bezeichnet man das Ausgesetzsein der Risikoelemente gegenüber den gefährlichen Prozessen. Die Anfälligkeit der Risikoelemente beschreibt die Widerstandsfähigkeit gegenüber den Gefahren. Die Vulnerabilität wird mittels Schadenfunktionen quantifiziert.

  1. Ausblick

Entscheidungen mit unsicheren Umweltzuständen (Klimawandel) und immer größer werdender finanzieller Belastung in der Stadtentwässerung machen ein Paradigmenwechsel unausweichlich. Weg vom Sicherheitsdenken hin zum Risikodenken ist notwendig.

Handeln mit Risiko setzt allerdings die Möglichkeit seiner Quantifizierung voraus. Erst neuste Entwicklungen der Modelltechnik in der Stadtentwässerung ermöglichen die Beschreibung von Gefahren auslösenden Prozessen in ihrer Intensität und ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit. Die zu erwartenden Schäden unterschiedlicher Art können hinreichend genau geschätzt werden. Man erhält dadurch eine repräsentative Risikoaussage. Diese Aussage bildet die Basis für die Entwicklung eines ÜRM, dessen primäres Ziel die Verbesserung der Eigenvorsorge der Kommunen und den betroffenen Bürgern ist.

Grundvoraussetzung für ein adäquates ÜRM ist eine interdisziplinäre Maßnahmenplanung und Prioritätensetzung aus einer Gesamtbetrachtung mit dem Ziel der Minimierung des Überflutungsrisikos. Das ÜRM umfasst den Umgang mit dem Restrisiko nach Umsetzung der notwendigen Maßnahmen.

Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es erst mittels eines ÜRM möglich, den finanziellen Mitteleinsatz nachhaltig zu steuern und zu optimieren. Unnötige Investitionen, abgeleitet alleine aus dem rein technischen Überflutungsschutz, werden vermieden.

Darüber hinaus ermöglicht das ÜRM eine bessere Bewältigung eines Überflutungsereignisses wegen der zu erwartenden Begrenzung des Schadensausmaßes. Durch Prävention und Vorsorge, beide Bestandteile eine ÜRM, wird die Vulnerabilität gegenüber Überflutungsereignisse vermindert. Auch für den normalen Alltagsbetrieb schafft es durch die Möglichkeit der Ereignisanalyse bessere Voraussetzungen.

Überflutungsvorsorge – im Gegensatz zum gewässerseitigen Hochwasserrisikomanagement – befindet sich in der Geburtsphase. Mit Blick auf die unsicheren Umweltzustände und die große finanzielle Belastung müssen in den kommenden Jahren vorausschauende Strategien, verbunden mit einer hohen Systemflexibilität und ein integrales Risikomanagement als zentrale Aufgaben des kommunalen Überflutungsschutzes, entwickelt und umgesetzt werden. Derzeit fehlen jedoch noch in großen Teilen allgemein anerkannte Methoden und die damit verbundenen Handlungsempfehlungen, um das Überflutungsrisiko stätischer Gebiete gänzlich mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand ermitteln und bewerten zu können.

  1. Literatur

[1]  DWA (Hrsg.): Klimawandel – Herausforderungen und Lösungsansätze für die deutsche Wasserwirtschaft. DWA – Themenband, Hennef, 2006

[2]  Europäische Union: Richtlinie 2007/60/EG vom 23. Oktober 2007 über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken

[3]  DIN EN 752: Entwässerungssysteme außerhalb von Gebäuden. Beuth, Berlin 2008

[4]  GFZ: RIMAX – Risikomanagement extremer Hochwasserereignisse, Ergebnisse aus der Hochwasserforschung. Deutsches GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ), Potsdam, 2009

[5]  Klimaänderung und Konsequenten für die Wasserwirtschaft. 4. KLIWA – Symposium am 3./4. Dezember 2009, Mainz, KLIWA – Berichthefte, Heft 15, 2010

[6]  dynaklim: Dynamische Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels in der Emscher – Lippe – Region (Ruhrgebiet). www.dynaklim.de

[7]  Arbeitsblatt DWA-A 118: Hydraulische Bemessung und Nachweis von Entwässerungssystemen. 2006

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